Einmal Boden und wieder zurück.

Diese Erfahrung habe ich in meinem Leben schon mehrfach gemacht und gemeistert. Mit meiner Landung im Rollstuhl und dem Sprung zurück ins bummvolle Leben als mein Parade-Stunt und absolutes „Highlight“. Man muss es aber nicht gleich so spektakulär angehen. Den Boden auf die harte Tour küssen müssen, passiert oft schleichend und leise. Allerdings mit jeder Menge Vorwarnungen, die man jedoch oft nicht sieht, nicht sehen will. Nichts desto trotz tut es nicht weniger weh und das wieder Aufstehen ist nicht minder anstrengend und leidvoll. Aber es lohnt sich! Und das ist wichtig zu wissen, denn es kann im Grunde jeden treffen. Man muss es ja nicht gleich so spektakulär angehen…

Schwach sein, die eigene Schwäche zugeben, das ist ein Kraftakt. Nicht mehr zu können, keine Reserven mehr zu haben, ausgebrannt zu sein und oft die falschen Schritte dagegen zu setzen, ist nichts, was einen stolz macht. Es schmerzt, bis man keine Tränen mehr hat. „Akkus leer“ ist in unserer Zeit jedoch ein weit verbreitetes Syndrom, Burn-out ist in aller Munde, aber es ist irgendwie immer noch nicht wirklich „greifbar“, schwammig, es ist uncool, Scham behaftet, man spricht nicht gern darüber, denn es ist ja so „schwach“ und so gar nicht tough. Glaubt man. Offen dazu zu stehen, dass der Hut brennt und man am liebsten ins Unterirdische verschwinden möchte, Augen, Ohren, Herz und Hirn am besten zehnmal zu, das ist schwer. So schwer. Und es tut weh. Bis ins Innerste seines Seins. So verdammt weh. Aber Schwäche gehört dazu, sie kommt vor. Und zum Glück zwingt sie einen förmlich, sie anzunehmen. Sonst gelingt ja gar nichts mehr, am allerwenigsten Heilung. Und das Unterirdische tut sich ja schließlich auch nicht so einfach auf, um mal eben drin verschwinden zu können…

Nichts mehr, wie es war.

 

In meinem Jahr 2019 passiert so viel. Vor einem Jahr erfahre ich, dass meine Ehe vor dem Aus steht, im Frühjahr folgt die Trennung. Plötzlich bin ich nicht mehr die Hälfte eines 19 Jahre lang gereiften Paares, sondern allein. Ich „schwitze“ den Schock verhältnismäßig schnell aus, wir beide einigen uns auf alles Gute und weiter geht’s. Ich bin ja ein Stehaufweibchen. Glaube ich jedenfalls. Monate lang schupfe ich seitdem die üblichen Auf und Ab’s einer Trennung, viele Ängste und Sorgen, ein sehr großes Haus samt Garten, unsere drei Kinder, zwei davon mit ihren jeweiligen Schul-Wehwehchen, einen Hund, zwei Katzen und meinen geliebten 20h-Job in der Mehrheit der Tage. Natürlich nicht allein. Ich habe für vieles Hilfe, einfach, weil ich manche Dinge schlicht und ergreifend nicht kann. Rasenmähen zum Beispiel. Betten überziehen. Probiert mal im Sitzen ein Bett zu überziehen. Im Test ist das sicher witzig, im Rollstuhl fallen einem dabei jedoch die herrlichsten Schimpfworte ein und die Schweißtropfen von der Stirn. Und das sind nur zwei Beispiele in einer ganzen Phalanx an Arbeiten, die in so einem Leben anfallen. Aber auch die Tatsache, für so vieles Hilfe zu brauchen, ist eine bittere Pille, die mir oft quer im Hals picken bleibt.

MICH übersehe ich bei diesem ganzen Pensum, das für einen intakten Zweibeiner schon nicht ohne ist. Ich halte mich an Strohhalmen, allesamt haben sie jedoch ihre Sollknickstelle. Meinen Körper beachte ich nicht, ich achte ihn nicht genug. Der Ladestand meiner Akkus fällt. Ein Prozent nach dem anderen. Die Kilos purzeln. Auftritt der geräderten Stabheuschrecke. Die Nervenschmerzen werden immer wütender, die Spastiken immer wilder. Infektionen und Druckstellen häufen sich. Von Hunger und Appetit weiß ich nur, wie man die Wörter schreibt, essen ist einfach eine mechanische Lästigkeit. Gift für eine Diagnose wie meine. Aber es kümmert mich nicht, keine Zeit, ich kann ja, ich muss, ich will, und das noch und das auch noch. Wonderwoman, immer lächelnd, immer locker-flockig, immer flott unterwegs, immer „geht schon!“.

VON WEGEN.

 

Ich treffe falsche Entscheidungen, vergesse komplett auf mich, bis eine Mauer mich wieder an mich erinnert. In die donnere ich hinein mit Full-Speed, beginnend mit einer Art Panikattacke und einem unschönen Breakdown. Körper und Seele spielen verrückt. Woah! Darnieder liegen, sich vergiftet fühlen, weil man sich schlicht und ergreifend vergiftet hat, ist, wenn man Glück hat, ein Eye-Opener der Extraklasse. Ich habe Glück. Schon wieder! Denn ich verstehe den Wink und Überzieher vom Zaunpfahl, der Watschenmann ist einer von Guten und ist so gut, mir wieder hoch zu helfen. „Ich kann so nicht weitermachen!“. Diese Worte vor mir selber auszusprechen, das ist – ungelogen – meine REIFste Leistung bisher. Ehrlich. Nie und nimmer hätte ich das vorher jemals mir selbst gegenüber zugegeben. Nie! Perfektionisten wie ich sind so.

Und sind dabei alles andere als perfekt.

Das muss ich auch nicht sein. Niemand muss das. Man darf schwach sein, fehlerhaft. Man darf ausgelaugt sein. Leer wegen eines zu vollen Lebens… Ja, schau dir das an! Der Himmel lässt rettende Einsicht regnen! Und macht mich wieder handlungsfähig. An der Mauer, für die ich dankbar bin, weil sie mich in die Knie zwingt und mir doch den Kopf gerade rückt, hangle ich mich hoch und suche mir umgehend Hilfe, finde sie und nehme sie in meiner Verzweiflung an. Plötzlich merke ich: Ich bin ja auch noch da! Es darf MICH auch noch geben! Und meine Behinderung ist auch noch da und sie hat auch ihre Aufmerksamkeit verdient. Auf einmal ist da ganz viel Platz zum Denken im Krankenzimmer. Raum für Notizen. Der viele Platz wirkt oft bedrohlich, er schürt Ängste und Zweifel, will mich manchmal erschlagen. Aber er tut es nicht, ich bin gut aufgehoben, dort, wo ich mich zu meiner Rettung hinbegeben habe. Ich kümmere mich um mich, es wird sich um mich gekümmert, es wird sich um meinen Körper gekümmert. Sogar eine kleine OP ist nötig, mehrere größere Untersuchungen. Aber das Ladekabel steckt wieder. Trotz allem.

Zuhause hilft der Papa der Kinder, wo er nur kann. Unterstützt mich in meinen Plänen, mein Leben zu entrümpeln und noch einmal komplett umzukrempeln. Ist für die Kinder da wie kein Zweiter. Stößt jetzt auch an viele Grenzen, ist aber einfach da. Glück, schon wieder. Und schließlich bin auch ich wieder da, es zu erleben und wertzuschätzen.

Es ist ok, sich zu trennen.

Es ist ok, weiterzuziehen.

Es ist ok, allein zu sein.

Es ist ok, schwach zu sein.

Es ist ok, hinzufallen.

Es ist ok, das zuzugeben.

Es ist aber nicht ok, sich selbst komplett aufzugeben. Denn wie soll man sonst je erfahren, ob man es am Ende nicht doch noch geschafft hätte?